Zeitschrift EE

 nt 04 | 2021 Gebäudesimulation

Einem optimierten Gebäudebetrieb auf der Spur

Ein digitaler Zwilling eines Objekts sollte sowohl statische als auch dynamische (verhaltensbezogene) Aspekte der physischen Realität digital widerspiegeln. Die Idee ist, dass Messungen und Beobachtungen am digitalen Klon einfacher (und automatisiert) durchgeführt werden können, einschließlich Experimenten und Was-wäre-wenn-Studien, die am realen Objekt schwierig oder sogar schädlich wären. In diesem Artikel geht es um digitale Zwillinge für Gebäude, die auf detaillierten physikalischen WhiteBox-Modellen beruhen. Heutzutage werden solche Modelle oft in der Entwurfsphase entwickelt, aber sie werden nur selten für Gebäude im Betrieb verwendet. Wir werden eine Reihe von Vorteilen aufzeigen, die sich aus der permanenten Verbindung eines solchen Modells mit der Fülle von Signalen ergeben könnten, die in der Praxis zwar gesammelt und gespeichert, aber nur selten für umfassende Diagnosen und Statistiken genutzt werden.

Das neue Forschungsgebäude von INFINEON Technologies in Villach (A) (Quelle: Infineon Technologies) und das zugehörige IDA ICE- Modell, mit dem das Konzept des Building Trackers getestet wird (Quelle: EQUA)

Stufenmodell des digitalen Gebäudezwillings

In der Factbox werden einige unterschiedliche Stufen von digitalen Zwillingen definiert. Level 0 definiert eine reine Überwachung des Gebäudes, die nicht als digitaler Zwilling betrachtet werden kann, auch wenn die Daten in einem realistisch aussehenden Bild des Gebäudes visualisiert werden. Solche Systeme haben keinen echten Datentransfer zwischen Realität und Modell. Level 1 ist die erste Stufe des digitalen Zwillings, bei der die Daten sowohl des physischen Gebäudes als auch des digitalen Zwillings überwacht und überlagert dargestellt werden. Die Datenübertragung von einem Zwilling zum anderen erfolgt über das menschliche Auge. Dies kann nicht in Echtzeit geschehen; stattdessen werden historische Daten verwendet. Auf Level 2 werden einige der erfassten Signale (z. B. Wetter und Belegung) in Echtzeit in die Gebäudesimulation eingespeist. Dies bedeutet, dass der digitale Zwilling den gleichen Randbedingungen ausgesetzt ist wie das reale Gebäude. Bei herkömmlichen Simulationen, für die kein physischer Zwilling zur Verfügung steht, werden für diese Randbedingungen statistische Erfahrungswerte angenommen. Stufe 3 ist der "Online-Observer" oder "State Estimator". Er vergleicht gemessene und simulierte Daten in Echtzeit. Mathematische Filter erzeugen "Justiersignale", die an das Simulationsmodell zurückgegeben werden, um den digitalen Zwilling in demselben Zustand wie das reale Gebäude zu halten. Auf Stufe 4 wird der digitale Zwilling im aktuellen Zustand seines realen Zwillings aus dem Echtzeitbetrieb genommen, um mit vorausschauenden Eingaben für das Wetter und die Belegung die optimalen Regelungsparameter für das Energiemanagementsystem des Gebäudes zu finden ("Was-wäre-wenn-Analyse").

Factbox: Stufenmodell des digitalen Gebäudezwillings. Quelle: EQUA

Black-Box – White-Box-Modelle

Oft werden heute die Verhaltensaspekte des realen Gebäudes bis zu einem gewissen Grad auch durch so genannte Black-Box-Modelle erfasst. Ein Black-Box-Modell sollte in der Lage sein, korrekt zu reagieren, d. h. die physikalischen Sensorsignale zu replizieren, wenn es demselben Stimulus (Input) ausgesetzt wird wie das reale Gebäude. Da das Modell selbst jedoch nichts über die zugrundeliegende Physik weiß, muss eine große Menge an Trainingsdaten zur Verfügung stehen. Außerdem kann es kein Verhalten nachbilden, das außerhalb der beobachteten Signale und Messungen liegt. Ein Vorteil ist hingegen, dass das Training eines Black-Box-Modells keine Kenntnisse über das Gebäude selbst erfordert und vollautomatisch erfolgen kann. Wir konzentrieren uns hier auf White-Box-Modelle, genauer gesagt auf Modelle, die einen der Entwurfsphase entsprechenden Detaillierungsgrad aufweisen und leicht an die Nachverfolgung eines Gebäudes in Echtzeit angepasst werden können. Sowohl White- als auch ausreichend trainierte Black-Box-Modelle können zur Verbesserung der Gebäudesteuerung eingesetzt werden.

Parameter- und Zustandsermittlung sowie virtuelle Sensoren

Ein White-Box-Modell kann auf zwei verschiedene Arten an das Gebäude angepasst werden: Mittels Parameterermittlung (Parameter Estimation - PE) und Zustandsermittlung (State Estimation - SE). Parameterermittlung bedeutet, dass die Parameter (zeitlich unveränderliche Eingaben) des Modells kalibriert werden, um die gemessenen Daten so gut wie möglich zu replizieren. Dies ist ein Prozess, der oft von Hand durchgeführt wird, um die Vorhersagefähigkeiten des Modells zu verbessern, aber er kann auch automatisiert und in regelmäßigen Abständen durchgeführt werden. Wird er automatisch durchgeführt, kann er interessante diagnostische Informationen liefern. Wenn z. B. die U-Werte von Wänden, Fenstern oder Wärmetauschern beginnen, von ihren Auslegungswerten abzuweichen, sollte dies näher untersucht werden (Ist dies auf einen fehlerhaften Sensor zurückzuführen oder verliert die eigentliche Gebäudekomponente ihre ursprüngliche Qualität?). Bei der Zustandsermittlung wird ein Modell in Echtzeit parallel zum Gebäude betrieben, und das Modell wird kontinuierlich gezwungen, (annähernd) korrekte physikalische Sensorsignale zu replizieren. Dies ist kein trivialer Vorgang für ein physikalisches Modell eines Raums, das Hunderte von Variablen haben kann, während vielleicht nur ein oder zwei physikalische Messungen verfügbar sind. Wenn dies jedoch gelingt, sind die Vorteile beträchtlich, und wir erhalten dann Zugang zu Hunderten sogenannten virtuellen Sensoren im Raum (alle zusätzlichen Variablen des White-Box-Modells). Dies bedeutet, dass wir zuverlässig Dinge beobachten (und kontrollieren) können, die im realen Gebäude nicht so einfach gemessen werden können, wie z. B. die operative Temperatur oder die Wärmeströme durch eine Wand. Die automatisierte Analyse der Zeitreihen kann interessante Erkenntnisse für das Gebäudemanagement zutage fördern, z. B. übermäßiges Öffnen von Fenstern, nicht funktionierende Jalousien, Belegung außerhalb der Auslegungsbedingungen, gleichzeitiges Heizen und Kühlen in Räumen, unangenehme Raumbedingungen usw.

Methode des „Building Trackers“

Abbildung 1 zeigt eine gemessene Raumtemperatur im Vergleich zum unkalibrierten Simulationsergebnis für einen Zeitraum von mehr als zwei Monaten. Während des untersuchten Zeitraums sind signifikante Unterschiede zwischen der gemessenen und der simulierten Lufttemperatur von bis zu fünf Grad Celsius zu beobachten, je nachdem, was im Raum passiert.

Abbildung 1: Vergleich gemessene und simulierte Temperatur ohne Building Tracker. Quelle: EQUA

Abbildung 2 zeigt den identischen Raum für denselben Zeitraum, in dem ein „Building Tracker“ die simulierte Raumtemperatur aktiv in die Nähe des gemessenen Signals zwingt. Abbildung 3 zeigt die dafür notwendige Leistung (in W), die dem Modell hinzugefügt wurde, damit es der Messung folgt.

Abbildung 2: Vergleich gemessene und simulierte Temperatur mit dem Building Tracker. Quelle: EQUA

EQUA entwickelt derzeit PE- und SE-Funktionalitäten für ihre Gebäudesimulationssoftware IDA ICE, den IDA Building Tracker. Die Methode wird in Zusammenarbeit mit AEE INTEC an einem Gebäude in Villach getestet, das von INFINEON Technologies betrieben wird. Die Hintergründe zu diesem Projekt wurden in der Ausgabe "Nachhaltige Technologien 04/2020" vorgestellt.

Abbildung 3: Zu- und abgeführte Wärmemengen für die Zustandsangleichung. Quelle: EQUA

Das Ziel dieser Entwicklungsarbeit ist, in Zukunft ein sehr umfangreiches Gebäudemonitoring bei minimalen Investitionskosten zu ermöglichen und so die Gebäude im Betrieb kontinuierlich zu optimieren.

Stellungnahme

"Unserer Erfahrung nach funktionieren Gebäude und deren Energieversorgungssysteme bei Auswertung von Messdaten aus dem Realbetrieb selten so, wie es bei der Planung vorgesehen war. Oftmals bleiben auch grobe Fehler unerkannt, wie etwa eine Pumpe, die in die falsche Richtung läuft oder ganze Systeme die laufen, auch wenn sie nicht gebraucht werden. Ein digitaler White-Box-Zwilling wird solche Probleme unweigerlich aufdecken und uns helfen, zukunftsfähigere Systeme bereitzustellen."

Per Sahlin, CEO EQUA Simulation AB. Foto: EQUA

Danksagung

Die hier beschriebenen Arbeiten wurden im laufenden EU-Projekt Arrowhead Tools for Engineering of Digitalisation Solutions durchgeführt, dem derzeit größten EU-Projekt zur Digitalisierung in der Industrie (EU ECSEL Joint Undertaking, Vertragsnummer 826452).

Autor*innen

Sven Moosberger ist CEO der EQUA Solutions AG, Schweiz.
Markus Hogberg ist Leiter der Entwicklung bei EQUA Simulation AB, Schweden.
Simon Ollander ist Mitarbeiter der EQUA Simulation AB, Schweden.
Daniel Ruepp ist Mitarbeiter der EQUA Solutions AG, Schweiz.
Per Sahlin ist CEO der EQUA Simulation AB, Schweden.

Top of page