Zeitschrift EE

02 | 2023 Energiewende für Städte und Gemeinden

Dekarbonisierungsstrategie für städtische Wärme- und Kältenetze

Carina Seidnitzer-Gallien, Michael Salzmann, Ingo Leusbrock, Stefan Thalmann, Laure Deschaintre

Die ehrgeizigen europäischen Ziele, die Treibhausgasemissionen bis 2030 um 55 Prozent zu reduzieren, lassen sich nur duch eine konsequente Steigerung der Energieeffizienz und durch den nachhaltigen Ersatz fossiler Energieträger mit erneuerbaren Alternativen erreichen. Städtische Wärme- und Kältenetze basierend auf erneuerbaren Energien können zum Gelingen der Wärmewende in urbanen Gebieten beitragen. Sechs europäische Regionen haben im EU-Projekt RES-DHC „Renewable Energy sources for district heating and cooling“ Strategien, Maßnahmen und Aktivitäten für verbesserte Rahmenbedingungen, technische Realisierungskonzepte, einen besseren Zugang zu Anlagenfinanzierung und Geschäftsmodellen entwickelt, um bestehende urbane Fernwärme und -kältenetze auf einen hohen Anteil an erneuerbaren Energien umzustellen und die Akzeptanz zu verstärken. Insgesamt wurden 38 Maßnahmen in den sechs Regionen identifiziert und mit der Umsetzung gestartet.

Solares Großspeicherprojekt HELIOS zur regenerativen Fernwärmeversorgung der Stadt Graz – Endausbau mit 8.400 m² Kollektorfläche bis 2023/2024 geplant. Foto: Energie Graz

Rahmenbedingungen für städtische Fernwärme

Im Wärme- und Kältesektor bieten vor allem die vorhandenen Fernwärme- und Kältenetze in Europa ein enormes Potential urbane Regionen mit klimaneutraler Wärme zu versorgen und eine nachhaltige Versorgungssicherheit und Wertschöpfung in der Region zu gewährleisten. Derzeit werden etwa 60 Millionen Menschen in der EU mit Fernwärme versorgt, sodass der Versorgungsgrad mit Fernwärme von 20 Prozent in Zentraleuropa bis über 50 Prozent in Nordeuropa liegt. In Österreich ist ein ökonomisches Potenzial bis zu 50 Prozent1 erreichbar, was nahezu eine Verdoppelung in der Fernwärmeversorgung bedeutet. Der Anteil an regenerativen Energiequellen in der Fernwärmerzeugung ist dabei mit Ausnahme von Skandinavien noch sehr gering.

Gegenwärtig wird die benötigte Wärme in Städten überwiegend zentral mit wenigen Erzeugungsanlagen bereitgestellt. Zukunftssichere Lösungen ermöglichen es, lokale Ressourcen mit einem hohen Anteil an regenerativen Energiequellen (Solarthermie, Geothermie, Umweltwärme, Abwärme, Kombination mit Wärmepumpentechnologien und Speichern) zu erschließen und diese in einem nachhaltigen Transformationsprozss (Dekarbonisierungs-Roadmap) in bestehende Wärme- und Kältenetze zu integrieren. Parallel zur richtigen Kombination der technischen Lösungen müssen die notwendigen regulatorischen und organisatorischen Hemmnisse durch eine aktive Integration von Stakeholdern, neue Innovations- und Geschäftsmodelle, nachhaltige Finanzierungsmöglichkeiten und rechtlich-politische Rahmenbedingungen adressiert werden.

EU-Projekt RES-DHC

Das Projekt RES-DHC befasst sich mit den vielfältigen Herausforderungn der Marktakzeptanz zur Erreichung eines höheren Anteils an regenerativen Energiequellen in städtischen Fernwärme- und Kältenetzen und beschäftigt sich insbesondere mit der Entwicklung von Lösungen und Instrumenten zur Förderung von Umsetzungsprojekten und der langfristigen Steigerung der regionalen Wertschöpfung und Klimaneutralität in den Städten.

Sechs europäische Regionen sind im Projekt RES-DHC beteiligt:

Wärmeversorger-basierte Regionen befassen sich mit umsetzungsnahen Themen und konkreten Fallstudien (AT, PL, IT)

  • Steiermark, Graz, AT: AEE INTEC, Energie Graz, Umweltamt der Stadt Graz
  • Szczecin und Westpommern, PL: SEC - Szczecińska Energetyka Cieplna
  • Parma und Aosta, IT: IREN, Ambiente Italia

Behörden-basierte Regionen konzentrieren sich auf Rahmenbedingungen und Marktunterstützung (DE, FR, CH)

  • Baden-Württemberg, DE: Solites - Steinbeis Forschungsinstitut für solare und zukunftsfähige thermische Energiesysteme, Hamburg Institut, AGFW-Projektgesellschaft für Rationalisierung, Information und Standardisierung, Umweltministerium Baden-Württemberg mit einer Verpflichtungserklärung
  • Auvergne-Rhône-Alpes, FR: Auvergne-Rhone-Alpes Energie Environnement, CEA INES - Institut National de l'Énergie Solaire, Regionalrat von Auvergne-Rhône-Alpes durch eine Absichtserklärung
  • Schweizer Kantone, CH: Verenum, Planair, Schweizer Kantone über eine Absichtserklärung der Energiedirektoren

Transnationale Unterstützung und Zusammenarbeit erfolgt mit dem dänischen Projektpartner PlanEnergi. Darüber hinaus baut die europäische Organisation Euroheat&Power die Brücke zu Regionen und Ländern außerhalb des Projektkonsortiums und auf europäischer Ebene.

Beispiel Dekarbonisierungsstrategie der Fernwärme im Großraum Graz

Die städtische Fernwärmeversorgung der Stadt Graz mit einer durchschnittlichen Wärmeaufbringung von rund 1.100 bis 1.200 GWh/a und einer Trassenlänge von rund 450 km (Stand 2022) hat eine Road-Map zur Dekarbonisierung der Wärmeversorgung erarbeitet und setzt dabei auf die Nutzung von regenerativen Energiequellen, um die Klimaziele zu erreichen, die Versorgungssicherheit zu gewährleisten und die Wertschöpfung zu steigern. Konkrete Projekte mit einer Wärmeproduktionskapazität von rund 660 GWh bis zum Jahr 2030 setzen auf die intensive Integration von Abwärme aus Gewerbe und Industrie (~240 GWh), Wärme auf Basis von nicht recyclingfähigen Abfällen (~185 GWh), der energetischen Klärschlammverwertung und Abwärmenutzung aus der Kläranlage (~36 GWh) und Biomasseanlagen in Kombination mit Solarthermie und Speichertechnologien (~200 GWh). Ergänzend wird intensiv auf Effizienzsteigerungen im städtischen Gebäudebestand und bei Heizungsanlagen gesetzt, sowie auf Netzverdichtung des bestehenden urbanen Fernwärmgebiets und den Netzausbau in neuen Stadtteilen.

Dekarbonisierungsstrategie 05/2022 der Fernwärme im Großraum Graz mit konkreten Projekten bis 2035. (AW Abwärme, KWK Kraft-Wärme-Kopplung, FHKW Fernheizkraftwerk, KH Heizhaus, GDK Gaskombikraftwerk, RAW Restabwärme, EKV Energetische Klärschlammverwertung, ERV Energetische Reststoffverwertung). Quelle: Energie Graz

Im neu entwickelten Stadtteil Reininghaus wurde ein innovatives Energiemodell auf Basis eines Niedertempereratur-Nahwärmenetzes mit altenativer Wärmeversorgung geplant und realisiert. Das Energiekonzept fußt auf einer Restabwärmenutzungsanlage sowie einer Niedertemperaturauskopplungsanlage bestehend aus hocheffizienten industriellen Wärmepumpen, welche mit modular aufgebauten Wärmespeichereinheiten, situiert im sogenannten "Power Tower", (siehe Abbildung) kombiniert sind. Die für die alternativen Wärmeerzeugungsanlagen erforderliche ökologische Abwärme zur Versorgung des Niedertemperatur-Nahwärmenetzes stammt dabei aus dem nahegelegenen Stahl- und Walzwerk Marienhütte. Im geplanten Endausbau des Stadtteils können bis zu 17.270 Tonnen CO2 pro Jahr durch die nachhaltige Energieversorgung eingespart werden.

Errichtung der Speichereinheit im „Power Tower“ zur Versorgung des Stadtteils Reininghaus in Graz mit Niedertemperatur-Nahwärme. Foto: Energie Graz

Im Projekt RES-DHC konnten neben Stadtentwicklungsprojekten Technologien für Langzeitwärmespeicher und Ansätze zur Versorgung aus dem Fernwärmerücklauf im gegenständlichen Projekt weiter verfolgt und mit qualitativen Erfolgsfaktoren zur regionalen Bewusstseinsbildung kombiniert werden. Diese können eine klimaneutrale und zukunftssichere Wärmeversorgung in der Stadt Graz und der umliegenden Region unterstützen.

Beispiel klimaneutrale Wärmeversorgung in Schweizer Regionen

Die Wärmebereitstellung verursacht in der Schweiz einen Energieverbrauch von rund 100 TWh pro Jahr und ist für rund die Hälfte des Energieverbrauchs verantwortlich (Stand 2020). Mehr als 60 Prozent oder über 60 TWh/a werden derzeit fossil erzeugt. Mit dem Handbuch zur Dekarbonisierung für thermische Netze soll in einem methodischen Ansatz gezeigt werden, wie der Anteil erneuerbarer Energien in bestehenden Wärmenetzen in der Schweiz erhöht werden kann. Das Handbuch deckt technische, wirtschaftliche, rechtliche und organisatorische Aspekte ab und zeigt Maßnahmen anhand von Praxisbeispielen. Ein Leitfaden zu Übergangslösungen und zur frühzeitigen Einbindung von potenziellen Wärmekund*innen in den Planungsprozess wurde mit dem Ziel zur Verbesserung der Wirtschaftlichkeit und dem Ausbau von Wärmenetzen realisiert.

Der strukturierte methodische Ansatz des RES-DHC-Projekts sowie die Umsetzungen in den sechs Regionen zeigen konkrete Beispiele, wie die Dekarbonisierung von Wärmenetzen vorangetrieben und der Wandel zur klimaneutralen Wärmeversorgung nachhaltig gefördert werden kann. Durch die konsequente Realisierung von emissionsmindernden Maßnahmen können Städte und Regionen im Klimaschutz eine Vorreiterrolle einnehmen.

Stellungnahme

"Die „Wärmewende“ ist ein zentraler Baustein der Dekarbonisierung unseres Energiesystems. Sie kann nur gelingen, wenn alle Möglichkeiten zur Einbindung und saisonalen Speicherung erneuerbarer Energie und Abwärme konsequent genutzt werden. Gerade das Thema „Saisonspeicher“ ist technisch und wirtschaftlich sehr herausfordernd. Im Rahmen des EU-Projektes „RES-DHC“ konnten für Graz wichtige Voruntersuchungen zu diesem Thema durchgeführt werden."

Werner Prutsch, Abteilungsleiter Umweltamt der Stadt Graz. Foto: Umweltamt

Autor*innen

Dipl.-Ing. Carina Seidnitzer-Gallien ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Bereich Technologieentwicklung bei AEE INTEC, Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!

Dipl.-Ing. Michael Salzmann ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Bereich Städte und Netze bei AEE INTEC, Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!

Dipl.-Ing. Dr. Ingo Leusbrock ist Leiter des Bereichs Städte und Netze bei AEE INTEC, Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!

Dipl.-Ing. Stefan Thalmann ist Projektleiter im Bereich Fernwärme bei Verenum AG, Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!

Dipl.-Ing Laure Deschaintre ist Projektleiterin im Bereich Erneuerbare Energietechnologien bei Planair SA, Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!

Weiterführende Informationen

  1. Büchele, R., et.al. (2021): Potenzial für eine effiziente Wärme- und Kälteversorgung, Wien.

Dieses Projekt wird durch das Forschungs- und Innovationsprojekt Horizon 2020 der Europäischen Union unter dem Förderkennzeichen 952873 gefördert.

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