Zeitschrift EE

 04 | 2023 Serielles Sanieren

Ehrgeizig, smart, wirksam – Estland als Vorbild beim seriellen Sanieren

Estland ist zusammen mit Deutschland das einzige Land, das es geschafft hat, die Sanierung von Mehrfamilienhäusern auf ein völlig anderes Niveau zu bringen als bisher. Viele haben wahrscheinlich von den sehr guten staatlichen Förderungen in Deutschlands gehört, aber warum und wie hat es ein so kleines Land wie Estland neben Deutschland geschafft und was könnten andere Länder, die ihre ersten Schritte in diesem Bereich unternehmen, aus ihren Erfahrungen lernen?

Bis 2050 sollen in Estland 14 000 Gebäude aus den 60er bis 90er-Jahren saniert werden. Foto: KMT Prefab

Europa will bis 2050 klimaneutral werden. Der Gebäudebestand ist einer der größten Energieverbraucher und laut Europäischer Kommission könnten 75 Prozent davon durch Sanierungen eingespart werden. Nach den Erfahrungen Estlands kann beispielsweise durch die Sanierung eines Mehrfamilienhauses auf ein Energielabel der Klasse C (Mindestanforderung für die Förderung) eine Heizenergieeinsparung von 65 Prozent und eine Reduzierung der Heizenergie- und der Stromkosten um 50 Prozent erzielt werden. Bei der zusätzlichen Installation von PV-Modulen kann sogar die Energieklasse A erreicht werden.

Mehr als die Hälfte des Gebäudebestands Estlands wurde während der Sowjetzeit gebaut, was bedeutet, dass wir ein groß angelegtes Modernisierungsprogramm vor uns haben, um die hohe Qualität und Lebensqualität unseres Wohnumfelds aufrechterhalten zu können und die heutigen Gebäude zukunftsfit zu machen. Im Jahr 2020 genehmigte die estnische Regierung eine langfristige Sanierungsstrategie, deren Hauptziel darin besteht, bis 2050 alle vor dem Jahr 2000 in Estland errichteten Mehrfamilienhäuser vollständig zu renovieren. Insgesamt handelt es sich um etwa 14 000 Gebäude – eine schnelle Überschlagsrechnung zeigt, dass jedes Jahr fast 500 Häuser saniert werden müssten. Dadurch wurde klar, welch großes Arbeitsfeld tatsächlich auf Estland wartet und dass es mit herkömmlichen Methoden nicht machbar ist.

Ein typisches mehrstöckiges Wohnhaus aus der Sowjetzeit wurde von den 1960er- bis in die 1990er-Jahre in Estland aus vorgefertigten großen Betonplatten gebaut. Etwa 65 Prozent der Esten leben in solchen Wohnhäusern. Eine der zusätzlichen Herausforderungen in Estland ist die Besonderheit des Wohnungsmarktes, da 95 Prozent der Wohnungen im Besitz von Privatpersonen sind. In den Ländern West- und Nordeuropas liegt der Anteil privater Wohnimmobilien im Durchschnitt bei 50 bis 60 Prozent.

Sanierungsprojekt in Tartu VorherNachher. Foto: KMT Prefab

Serielle Sanierung als Lösung und neuer Standard

Als Ergebnis mehrerer Diskussionen unter Beteiligung von Ministerien, staatlichen Institutionen, Universitäten, Kommunen und Berufsverbänden kam man zu dem Schluss, dass der effektivste Weg zur umfassenden Sanierung dieser Häuser darin besteht, eine der am weitesten entwickelten Industrien in Estland zu nutzen – den Holzfertigbau. Estland ist seit langem der größte Exporteur von Holzhäusern in Europa. Dieser große Erfahrungsschatz, den wir vor allem in den nordischen Ländern gesammelt haben, wird nun für die Renovierung unseres lokalen estnischen Marktes genutzt.

Estlands erste Sanierung mit vorgefertigten Elementen wurde im Jahr 2017 durchgeführt, als in Tallinn ein Universitäts-Wohnheim komplett saniert wurde – ein fünfstöckiges Standardgebäude aus der Sowjetzeit. Seit dem Jahr 2020 wurde die industrielle Vorfertigung stärker vorangetrieben, als KredEx1 beschloss, ein Förderprogramm für die serielle Sanierung mit vorgefertigten Fassaden von Mehrfamilienhäusern zu eröffnen. Die Höhe des Zuschusses betrug 50 Prozent der Gesamtkosten des Projekts – insgesamt 12 Millionen Euro. Es wurden fünf Standardprojekte ausgewählt, die in verschiedenen Städten Estlands am häufigsten gebaut worden waren und deren Lösungen die Sanierung einer großen Anzahl ähnlicher Häuser in Zukunft erleichtern würde. Ziel war es außerdem, estnischen Holzbaufirmen die Möglichkeit zu geben, Erfahrungen bei der Entwicklung und Umsetzung von Sanierungs-Lösungen für einen bestimmten Haustyp zu sammeln. Insgesamt waren 19 Häuser für die Sanierung vorgesehen, zwei davon sind heute vollständig saniert, elf stehen kurz vor der Fertigstellung und für sechs Häuser werden die Wandelemente gerade produziert. Die Außenwände von sieben dieser vier- bis fünfstöckigen Häuser wurden von KMT Prefab hergestellt und montiert.

Basierend auf den Erfahrungen von KMT Prefab können die Vorteile der Sanierung mit vorgefertigten Elementen gegenüber einer herkömmlichen Sanierung hervorgehoben werden:

  • Die Sanierung mit vorgefertigten Elementen ist doppelt so schnell wie herkömmliche Sanierungen, was bedeutet, dass viel mehr Häuser in kürzerer Zeit saniert werden können.
  • Bei der Sanierung mit vorgefertigten Elementen werden die mit der herkömmlichen Sanierung verbundenen Nachteile wie Wartung der Baustelle, hoher Arbeitsaufwand, Zeitaufwand oder Belästigung der Bewohner*innen während des Baus reduziert.
  • Es ist nicht notwendig, Gerüste um das Gebäude herum aufzubauen.
  • Die Sanierungen weisen bessere Qualität und auch eine höhere Energieklasse auf. Die Vorfertigung bietet die Sicherheit, dass die Arbeiten qualitativ hochwertig und kontrolliert ausgeführt werden. Darüber hinaus wird zum Ausgleich der Unebenheiten der bestehenden Häuser zwischen den Elementen Ausgleichsdämmung angebracht, welche die Energieklasse des gesamten Hauses erhöht.

Folgende Voraussetzungen sind unserer Erfahrung nach notwendig, damit die serielle Sanierung richtig durchstarten kann:

  1. Das Vorhandensein kompetenter technischer Berater*innen, die als Vermittler zwischen den Wünschen und Möglichkeiten der Wohnungseigentümergemeinschaft und den Anbietern technischer Lösungen fungieren.
  2. Langfristige Finanzierung: Damit haben die Unternehmer die Sicherheit, ihre Kompetenz, Technologie und Fertigungsinfrastruktur weiterzuentwickeln, um effektive, qualitätsvolle Lösungen anzubieten.
  3. Stärkere staatliche Unterstützung für serielle Sanierungen: In Estland beträgt der Fördersatz für normale Renovierungen in Großstädten 30 Prozent und für serielle Sanierung 50 Prozent der Investitionskosten. KMT Prefab hat in Zusammenarbeit mit dem Baupartner errechnet, dass bei einem Fördersatz von 50 Prozent die Sanierung mit vorgefertigten Fassadenelementen für die Wohnbaugesellschaft ca. 10 Prozent günstiger ist als eine normale Sanierung mit einem Fördersatz von 30 Prozent.
  4. Kontinuierliche Produktentwicklung: KMT Prefab erreicht bei der Produktion von Hauswandelementen mittlerweile einen Vorfertigungsgrad von 98 Prozent. Wir arbeiten ständig mit Forscher*innen zusammen, die uns dabei helfen, mit Laborversuchen die besten Lösungen zu finden.

Für die Jahre 2021-2027 beträgt der Sanierungszuschuss für Mehrfamilienhäuser in Estland 360 Millionen Euro, davon wurden bislang 80 Millionen Euro ausgegeben. Die Wohnungsgenossenschaften entscheiden selbst über die Art der Sanierung – entweder herkömmliche oder serielle Sanierung mit vorgefertigten Elementen. Bis Anfang 2025 ist es notwendig, Förderentscheidungen über Kredex für diesen Gesamtbetrag zu treffen, damit das Geld bis Ende 2027 ausgezahlt werden kann. Im Durchschnitt kann es von der Gewährung des Zuschusses bis zum Abschluss der Bauarbeiten, einschließlich Entwurf, Koordination und Bauausführung, zwei Jahre dauern. Noch heuer ist die Ankündigung der nächsten Förderrunde (Anfang 2024) mit einem Volumen von 160 Millionen Euro geplant. Die estnische Woodhouse Association setzt sich dafür ein, dass ein fixer Anteil für serielle Sanierung reserviert wird.

Weiteres Verbesserungspotenzial

Da Sanierungen mit vorgefertigten Elementen breit angelegt sind und verschiedene Lösungen bieten, wäre es äußerst wichtig, ein gut visualisiertes Berechnungs- und Wirtschaftlichkeitsanalysetool basierend auf den unterschiedlichen Gebäudetypen zu entwickeln. Damit könnte man sehr schnell einen Überblick über die tatsächlichen Kosten für die Wohnungseigentümergemeinschaft, Energieeinsparungen und zukünftige Kreditzahlungen erhalten. Dies würde jeder Wohnungseigentümergemeinschaft die Möglichkeit geben, die kostengünstigste Lösung basierend auf den Bedürfnissen ihrer Wohnungseigentümergemeinschaft zu finden. Der primäre Prototyp dieses Tools wurde an der Technischen Universität Tallinn im Rahmen des europäischen Forschungsprojekts „oPENLab2“ entwickelt.

Eine weitere Herausforderung hängt sicherlich mit dem Erscheinungsbild der renovierten Gebäude zusammen. Sie könnten attraktiver, mit einer vielfältigeren Auswahl an Farben und Materialien sein. Die Lösung könnte ein Architekturwettbewerb sein, bei dem für jeden der gängigsten Gebäudetypen einige Standardlösungen entwickelt werden, aus denen die Wohnbaugesellschaft diejenige auswählen kann, die ihr gefällt. Die Lösungen sollten architektonisch anspruchsvoll, aber gleichzeitig standardisiert sein, damit eine industrielle Vorfertigung möglich ist und die Sanierung für die Bewohner*innen erschwinglich bleibt.

Foto 1, Foto 2. Quelle: KMT Prefab

Weitere Informationen

  1. KredEx ist eine vom estnischen Ministerium für Wirtschaft und Kommunikation gegründete Stiftung mit dem Ziel, Finanzlösungen und/oder Förderungen anzubieten, die auf den weltweit besten Praktiken basieren. KredEx ist zu einem wichtigen Bindeglied zwischen estnischen Finanzinstituten und Kreditnehmern sowie zwischen Exporteuren und ausländischen Käufer*innen geworden. Seit Anfang 2022 bilden KredEx und Enterprise Estonia (estnische Wirtschaftsförderungsagentur) die Estnische Wirtschafts- und Innovationsagentur (Estonian Business and Innovation Agency).
  2. Horizon 2020, openlab-project.eu

Autorin

Mari-Ann Eensaar ist Verkaufsleiterin von KMT Prefab. Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!

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