Zeitschrift EE

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Die politische Rolle der Industrie in der Energiewende

Industrie als Teil der Lösung und Trigger eines umfassenden Umbaus des Energiesystems

Dieter Drexel

Der fortschreitende Klimawandel macht eine letztendliche Dekarbonisierung des globalen Energiesystems unumgänglich. Für Europa wird die Klimaneutralität in etwa für die Mitte des Jahrhunderts gesellschaftlichund politisch ins Auge gefasst. Noch konkreter sind
die Ziele für das Jahr 2030 von 40 Prozent weniger Treibhausgasemissionen gegenüber 1990 auf europäischer und von minus 36 Prozent gegenüber 2005 auf nationaler Ebene. Dabei kommt der Industrie als einem der relevanten Sektoren im Energiesystem mit einem Anteil von rund 30 Prozent des Endenergieverbrauchs eine gestaltende Schlüsselrolle in der Energiewende zu. Dies entspricht auch dem Selbstverständnis der überwältigenden Mehrheit der Unternehmen und jedenfalls der Industriellenvereinigung (IV), die sich bereits sehr früh hinter die entsprechenden politischen Ziele auf EU-Ebene gestellt hat.

Klimawandel auch global adressieren

Dabei setzt sich die im internationalen Wettbewerb stehende Industrie, und besonders die energieintensive Industrie, mit Nachdruck dafür ein, dass neben der Selbstverpflichtung der EU auch andere Industriestaaten vergleichbare Ambitionen zeigen. Angesichts eines Anteils der EU von gerade noch 10 Prozent an den globalen Emissionen – Tendenz sinkend – ist es nicht nur eine ökonomische sondern zuallererst auch eine zwingende klimapolitische Notwendigkeit, die wesentlichen anderen Wirtschaftsmächte im Pariser Abkommen zu halten. Dabei gilt es, die klimapolitisch ambitionierte Position der EU gegenüber anderen Staaten glaubwürdig zu untermauern und diese zu verstärkten Klima-Anstrengungen zu motivieren. Dafür hält die IV mittlerweile auch Maßnahmen in Form von Abgaben für grundsätzlich vorstellbar, die auf die Treibhausgas-Emissionslast von Importen basieren und diese finanziell bewerten (z. B. Border Tax Adjustments).

Klima- und Energiestrategie „Mission 2030“ als Milestone

Schwerpunkt der Aktivitäten der heimischen Industrie ist jedoch naturgemäß das österreichische Energiesystem. Diesem wurde mit der integrierten Klima- und Energiestrategie der Bundesregierung „Mission 2030“ eine deutlich erkennbare Ausrichtung gegeben. Nun kann man freilich der Meinung von Gastautoren dieser Zeitschrift in der Ausgabe 03/2018 sein, dass die ins Auge gefassten Maßnahmen zu wenig, zu klein, zu spät und überdies nicht finanziell hinterlegt seien. Als IV anerkennen wir jedoch zuallererst, dass in Österreich erstmals überhaupt eine solche integrierte Strategie vorliegt. Die Strategie der Bundesregierung benennt handlungsleitende Prinzipien und skizziert eine Reihe grundleger „Leuchtturmprojekte“, die ausdrücklich die Unterstützung der IV finden.

Stromwende allein greift zu kurz

Kritisch aus Sicht der Industrie hingegen ist die spürbare politische und kommunikative Fokussierung auf das Ziel, 100 Prozent des Stroms bis 2030 aus erneuerbaren Quellen bereit zu stellen. Dies mag angesichts einer öffentlichen Wahrnehmung, die weitestgehend in erneuerbarem Strom, in Windrädern und Photovoltaik die Antwort auf den Klimawandel erkennt, politisch durchaus rational sein. Dass mit rund 20 Prozent (!!) am energetischen Endverbrauch nur ein vergleichsweise kleiner Anteil auf das Stromsystem entfällt, ist in der breiten öffentlichen Debatte nicht bekannt, nicht bewusst oder wird angesichts der sich daran knüpfenden politischen Fragestellungen ausgeblendet. Angesichts der Brisanz dieser Fragen, etwa nach der Finanzierbarkeit der Sanierung des Gebäudebestandes oder der Durchsetzbarkeit von wirksamen Maßnahmen im Verkehr, ist dies politisch nachvollziehbar. Anschauungsmaterial zu dieser politischen Logik liefert aktuell die Protestbewegung der Gelbwesten in Frankreich.

Thermische Energieversorgung entscheidend für Energiewende

Vor diesem Hintergrund einer verengten Wahrnehmung mitentscheidender Stellschrauben für eine gelingende Energiewende verschreibt sich die IV einer breiteren Betrachtung maßgeblicher Handlungsfelder. Allen voran sticht quantitativ der Hochtemperatur(>100 °C) und Niedertemperaturbereich (<100 °C) in der gesamten Volkswirtschaft mit einem Anteil von mehr als 50 Prozent der Nutzenergie ins Auge (siehe Grafik). Noch höher ist der Anteil von Wärme- und Kältebereitstellung in der Industrie selbst, auf den über 60 Prozent des Energieverbrauchs entfallen. Aus Sicht der IV muss daher die Erarbeitung und Umsetzung einer ambitionierten Wärmestrategie das eigentlich zentrale Projekt der Energie- und Klimapolitik sein, freilich ohne dabei den Blick auf das Gesamtsystem zu vernachlässigen.

Datenquelle: Stefan Schleicher et al., Welche Zukunft für Energie und Klima? Folgenabschätzungen für Energie- und Klimastrategien – Zusammenfassende Projektaussagen, WIFO, Wien 2018

Exergie und Anergie für ein besseres Verständnis des Energiesystems

Ein solch ganzheitlicher Blick wird auch die entscheidende Größe der Arbeitsfähigkeit von Energie (Exergie) in der Konzeption sektorübergreifender Lösungen (Sektorkopplung) berücksichtigen. Ziel muss es vermehrt sein, in einer Kaskade Exergie in mehreren Anwendungs- und Temperaturstufen abzuarbeiten und selbst Wärme auf einer niederen Temperaturstufe (hoher Anteil von Anergie) zu nutzen. Durch eine Mehrfachnutzung von Energie auf unterschiedlichen Niveaus der Arbeitsfähigkeit ist eine spürbare Reduktion des Primärenergieeinsatzes vorstellbar und damit letztendlich die Dekarbonisierung durch den Umstieg auf Erneuerbare. Da dies neben technischen Fragen vor allem auch wirtschaftliche und rechtliche Fragen aufwirft, wird auch eine verstärkte „Sektorkopplung“ auf politischer Ebene zwischen betroffenen Ressorts erforderlich werden. Eine solche wurde immerhin mit der Zusammenführung von energie- und klimapolitischen Agenden in einem Ressort eingeleitet.

Innovation auf allen Ebene vorantreiben

Die Beantwortung der skizzierten Fragenkomplexe ist nur auf Basis konsequenter evolutionärer Forschung und Innovation in technischer wie sozioökonomischer Hinsicht sowie auch disruptiver technologischer Durchbrüche möglich. Dementsprechend ist die Industrie nicht nur Treiber von Forschung und Innovation, sondern setzt sich auch für deutlich erhöhte öffentliche Aufwendungen im Bereich der Energieforschung ein, um Österreich mittelfristig unter die Top 3 der europäischen Energieforschung zu bringen.

Energiepolitische Diskussion verbreitern und vertiefen

Zusammenfassend ist es die nachdrückliche Auffassung der Industriellenvereinigung, dass nur eine breit und vertieft geführte Debatte über die Weiterentwicklung des Energiesystems zu substanziellen Fortschritten auf dem Weg zur Klimaneutralität führen wird. Dass eine solche Debatte, die weit über das Stromsystem hinausreichen muss, von Erkenntnissen und Einsichten profitiert, wie sie u. a. auch von AEE INTEC erarbeitet und bereitgestellt werden, ist nicht hoch genug einzuschätzen.

Autor

Dipl.-Ing. Dieter Drexel ist stv. Bereichsleiter „Infrastruktur, Transport, Ressourcen & Energie (ITRE)“ sowie GF des Ausschusses für Ressourcen, Energie & Ökologie der österreichischen Industriellenvereinigung.

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