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Anergienetze als Chance zur Dekarbonisierung der Energiesysteme

Bei der Umsetzung der europäischen Klimaziele spielt der Energieverbrauch des Gebäudeparks eine zentrale Rolle. Der grosse Bedarf an fossiler Energie für Raumwärme und Warmwasser muss reduziert und zu einem wesentlichen Teil mit erneuerbaren Energien ersetzt werden. Eine zusätzliche Herausforderung stellt auch der steigende Bedarf an Kälte zur Gebäudeklimatisierung oder zur Prozesskühlung dar. In Arealen mit gemischter Nutzung, die sowohl einen Wärmebedarf von Wohnbauten als auch einen Kältebedarf von Gebäuden aus Industrie und Dienstleistung aufweisen, kann dies aber durchaus eine Chance sein. Mit sogenannten „kalten Fernwärmeoder Anergienetzen“ können Wärme- und Kältebezüge vernetzt und Synergien genutzt werden. Diese Netze werden auf einem Temperaturniveau von ca. 4 - 30°C betrieben und dienen als Quelle für dezentrale Wärmepumpen oder Kältemaschinen. Wegen der kalten Temperaturen im Netz können günstige, nicht isolierte Leitungen verwendet werden, ohne dass viel Wärme verloren geht. Das umgebende Erdreich kann sogar als zusätzlich Wärmequelle im Winter und Kältequelle im Sommer agieren. Weil Wärme- und Kältebedarf saisonal versetzt auftreten, braucht es zusätzliche Quellen oder Speichermassen. Dazu kommen unter anderem See- und Flusswasser, Grundwasser oder grosse Erdsondenfelder in Frage. Diese Erdsondenfelder kühlen durch den Wärmeentzug im Winter aus und werden im Sommer zur Kühlung von Bürogebäuden oder anderen Anwendungen mit grossem Kältebedarf genutzt. Eine Kältenutzung bedeutet für das Netz aber gleichzeitig einen Abwärmeeintrag, wodurch Erdsondenfelder wieder aufgewärmt werden und abermals für die Wärmenutzung im Winter zur Verfügung stehen. Diese Doppelnutzung macht solche Netze sowohl energetisch als auch ökonomisch interessant. Ferner ist die Erweiterbarkeit von Anergienetzen vergleichsweise einfach zu realisieren, so dass ein sukzessiver und flexibler Ausbau eines Netzes nach Bedarf und städtebaulichen Veränderungen möglich ist.

Einige dieser Netze wurden in der Schweiz in den letzten Jahren realisiert oder befinden sich momentan im Bau. Bekannte Beispiele sind das Anergienetz Naters (Hauptenergiequelle: Grundwasser), das Genève lac nations (Hauptenergiequelle: Seewasser) oder die ETH Hönggerberg, das „Suurstoffi“ Areal in Rotkreuz oder die Familienheim-Genossenschaft (FGZ) in Zürich (Hauptenergiequelle: Erdsonden). Das Netz der FGZ in Zürich wird im folgenden Abschnitt beispielhaft vorgestellt, um die wichtigsten Eigenschaften und das Potential von Anergienetzen aufzuzeigen.

Abbildung: Quelle: F. Ruesch, SPF. Panorama: © GoogleEarth

Beispiel Anergienetz Familienheim-Genossenschaft Zürich

Die Familienheim-Genossenschaft Zürich hat sich 2011 entschlossen, einen Grossteil ihres Wärmebedarfs mittels eines Anergienetzes zu decken. Es ist vorgesehen, das Netz in mehreren Bauabschnitten bis zum Jahr 2030 auszubauen. Im Endausbau sollen ca. 2 300 Wohneinheiten mit 5 700 Bewohnern und einem Wärmebedarf von 35 000 MWh versorgt werden. Diese Energie wird von mehreren Abwärmelieferanten (hauptsächlich Rechenzentren der Swisscom und der Credit Suisse) zur Verfügung gestellt. Das Abwärmepotenzial im gegebenen Areal beträgt dabei ca. 80‘000 MWh und übersteigt den Wärmebedarf der Genossenschaft bei weitem. Weitere Details zu diesem Netzwerk sind z. B. in [1] gegeben. Im Herbst 2014 ging die erste Bauetappe mit ca. 400 Wohneinheiten in Betrieb, die nun mit Abwärme aus einem Rechenzentrum und einem Erdsondenspeicher mit 153 Sonden von 250 m Tiefe versorgt werden. Dabei konnte eine Jahresarbeitszahl der Wärmepumpe von über vier erreicht werden. Dies ist insofern beachtlich, da hauptsächlich Bestandsgebäude mit Vorlauftemperaturen bis 70°C versorgt werden. Nach der erfolgreichen Inbetriebnahme der ersten Bauetappe wurde entschieden, eine weitere Bauetappe für 600 weitere Wohneinheiten bis Ende 2019 zu realisieren. Die zweite Etappe befindet sich momentan in Bau. Für die teils modernen Gebäude mit Fussbodenheizung werden nochmals deutlich bessere Jahresarbeitszahlen erwartet.

Verfügbarkeit von Niedrigtemperaturquellen essentiell

Durch die Einspeisung der Abwärme von Datencentern erreichen die Erdspeicher und somit auch das Netz im Sommer Temperaturen von fast 30°C. Somit können die Erdspeicher für den nachfolgenden Winter erwärmt werden. Bei der Familienheim-Genossenschaft Zürich liegt der Fokus auf der Wärmebereitstellung für die Gebäude der Wohngenossenschaft. Für Gebiete mit Fokus auf der Kältebereitstellung eignen sich Netze mit Erdsondenspeichern weniger, weil die Netz- Temperaturen im Sommer für die direkte Kühlung von Gebäuden zu stark ansteigen. Lässt sich eine Seewasseranbindung realisieren, können ausreichend tiefe Quelltemperaturen erreicht werden, da im Sommer die Temperatur in der Tiefe von grösseren Seen in unseren Breitengraden nur um wenige Grad um ca. 6 - 8°C schwankt [2]. Die Wassertemperaturen können aber im Winter knapp unter 4°C fallen, daher muss der Vereisungsgefahr von Wärmetauschern und Wärmepumpenverdampfern spezielle Beachtung geschenkt werden. Es können Massnahmen wie die Verwendung von Frostschutz im Netz oder in zusätzlichen Sekundarkreisen nötig werden. Netze mit Seewasseranbindung eignen sich also speziell für Gebiete bei denen die Kältenutzung im Vordergrund steht. Die Schweizer Seen weisen ein grosses Potenzial für die energetische Nutzung auf und können im Vergleich zu Erdsondenfeldern mit tieferen Kosten erschlossen werden. Daher befinden sich momentan in mehreren Städten wie Zug, Luzern oder Genf grosse Anergienetze mit Seewassernutzung in Planung oder in Bau.

Nächste Schritte und Herausforderungen

Ein großer Unterschied von Anergienetzen gegenüber herkömmlichen Fernwärmenetzen ist die dezentrale Platzierung der Pumpen und auch der Regelung bei den einzelnen Verbrauchern/Produzenten. Zur Steuerung wurden in den bestehenden Netzen meist einfache, robuste Regelstrategieen eingesetzt. Hier besteht noch Forschungs- und Optimierungspotenzial, denn wenn sich Wärme- und Kälteverbraucher besser aufeinander abstimmen, könnten Wärmepumpen und Kältemaschinen effizienter betrieben und Pumpenergie eingespart werden.

Bau des ersten Erdsondenspeichers für das Anergienetz der Familienheim-Genossenschaft-Zürich. Foto: Matthias Kolb, Amstein+Walthert AG

Die beträchtlichen zentralen, aber auch dezentralen Speicherkapazitäten in einem Anergienetz bieten das Potenzial in Kombination mit den Wärmepumpen/ Kältemaschinen flexibel auf Schwankungen der Strompreise reagieren zu können und somit sogar Regelenergie für das elektrische Netz anzubieten. Um diese Effekte besser zu quantifizieren, braucht es sehr detaillierte Modelle und Simulationsprogramme, welche bis jetzt nur zum Teil verfügbar sind.

Die Vernetzung von Wärme und Kälteverbrauchern bietet aber nicht nur Vorteile, sondern erzeugt auch Abhängigkeiten. So sind zumindest Netze mit Erdsondenfeldern auf eine saisonal ausgeglichene Bilanz zwischen Be- und Entzügen angewiesen. Die meisten bestehenden Anergienetze wurden von einem großen Verbraucher erstellt und betrieben, der die Energieflüsse kontrollieren kann. Für die weitere Verbreitung von Anergienetzen ist es wichtig, auch Areale mit kleinrämigen Besitzstrukturen zu erschließen. Dazu braucht es auch neue Tarifmodelle, welche das Zusammenspiel von Wärmeverbrauchern und Abwärmeproduzenten/Kälteverbrauchern über finanzielle Anreize regelt.

Verlegung der Rohrleitungen für das Anergienetzder Familienheim-Genossenschaft-Zürich. Foto: Matthias Kolb, Amstein+Walthert AG.

Literatur

  1. Ruesch, F., Kolb, M., Gautschi, T. & Rommel, M., 2013. Heat and cold supply for neighborhoods by means of seasonal borehole storage and low temperature energetic cross linking. In: Proceedings of the International Conference on Clean Technology for Smart Cities and Buildings CISBAT, Lausanne, Switzerland.
  2. Ruesch, F. & Haller, M., 2017. Potential and limitations of using low-temperature district heating and cooling networks for direct cooling of buildings. Energy Procedia, 122, p.1099 – 1104

Autor

Florian Ruesch ist als Projektleiter am SPF Institut für Solartechnik der Hochschule für Technik Rapperswil, Schweiz tätig. Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!

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