Zeitschrift EE

erneuerbare energie: 2.2020

Die neuen Strategien der EU

Wie sich unsere Energiesysteme verschränken müssen, um die Klimaziele möglichst kosteneffizient zu erreichen – Karl Kellner, langjähriger Referatsleiter für den Bereich der erneuerbaren Energie und der Energieeffizienz in Brüssel, erklärt, was sich hinter den Zielsetzungen der Europäischen Kommission verbirgt und welche Potenziale sich daraus für österreichische Unternehmen ergeben.

Die Europäische Union hat sich zum Ziel gesetzt, bis 2050 klimaneutral zu werden – das heißt, die Netto-Emissionen an Treibhausgas auf Null zu reduzieren. Dafür muss Europa sein Energiesystem, auf das 75 Prozent der Treibhausgasemissionen der EU entfallen, massiv umgestalten. Die im Juli 2020 von der Europäischen Kommission beschlossenen EU-Strategien zur Integration des Energiesystems und zu Wasserstoff werden den Weg zu einem effizienteren und stärker vernetzten Energiesektor ebnen, der von zwei Zielen geleitet wird: die Wirtschaft und den Umweltschutz zu stärken.

Abbildung: Das Banner für das Aufbaupaket „Next Generation EU“ an der Fassade des Berlaymont-Gebäudes, dem Sitz der Europäischen Kommission in Brüssel. Foto: EU Kommission, Aurore Martignoni

Mit den beiden Strategien wird im Einklang mit dem Aufbaupaket „Next Generation EU“ vom Mai des Jahres und dem europäischen Grünen Deal eine neue Investitionsagenda der Kommission für saubere Energie vorgestellt. Die geplanten Investitionen sollen die wirtschaftliche Erholung von der Corona-Krise ankurbeln. Sie schaffen Arbeitsplätze in Europa und stärken unsere Führungsrolle und Wettbewerbsfähigkeit in strategischen Wirtschaftszweigen, die für die Widerstandskraft („Resilienz“) Europas von entscheidender Bedeutung sind.

Die EU-Strategie zur Integration des Energiesystems bildet den Rahmen für die Energiewende. Mit dem derzeitigen Modell, bei dem der Energieverbrauch im Verkehr, in der Industrie, im Gas- und im Gebäudesektor sinnbildlich in „Silos“ mit jeweils getrennten Wertschöpfungsketten und unterschiedlicher Regelung und Infrastruktur erfolgt, kann Klimaneutralität bis 2050 nicht auf kosteneffiziente Weise erreicht werden. Die sich ändernden Kosten innovativer Lösungen müssen sich in der Art und Weise widerspiegeln, in der wir unser Energiesystem betreiben. Es müssen neue Verbindungen zwischen den Sektoren geschaffen und der technologische Fortschritt genutzt werden.

Integration des Energiesystems bedeutet beispielsweise ein System, in dem der Strom, mit dem die Fahrzeuge angetrieben werden, aus den Solarpaneelen auf unseren Dächern stammt, während unsere Gebäude mit Wärme aus einer nahegelegenen Fabrik geheizt werden und die Fabrik wiederum mit sauberem Wasserstoff betrieben wird, der mit Windenergie erzeugt wurde.

DIESE STRATEGIE RUHT AUF FOLGENDEN DREI SÄULEN:

  • Einem stärker „kreislauforientierten“ Energiesystem, dessen zentraler Bestandteil die Energieeffizienz ist. In der Strategie werden konkrete Maß- nahmen zur praktischen Anwendung des Grundsatzes „Energieeffizienz an erster Stelle“ und zur wirksameren Nutzung lokaler Energiequellen in unseren Gebäuden oder Gemeinschaften aufgezeigt. Die „Renovierungswelle“ wird ein wichtiger Bestandteil dieser Reformen sein.
  • Einer stärkeren direkten Elektrifizierung der Endverbrauchssektoren. Da der Anteil erneuerbarer Energien im Stromsektor am höchsten ist, sollten wir nach Möglichkeit zunehmend Strom nutzen, beispielsweise für Wärmepumpen in Gebäuden und Elektrofahrzeuge im Verkehr. Ein Netz von einer Million Ladestationen für Elektrofahrzeuge wird neben dem Ausbau der Solar- und Windkraft zu den sichtbaren Ergebnissen zählen.
  • Für die Sektoren, in denen eine Elektrifizierung schwierig ist, wird in der Strategie die Nutzung saubererer Brennstoffe – zum Beispiel von erneuerbarem Wasserstoff, nachhaltigen Biokraftstoffen und Biogas – vorgeschlagen.

In einem integrierten Energiesystem kann Wasserstoff die Dekarbonisierung von Industrie, Verkehr, Stromerzeugung und Gebäuden unterstützen. Die Wasserstoffstrategie der EU befasst sich damit, wie dieses Potenzial durch Investitionen, Regulierung, Schaffung von Märkten sowie Forschung und Innovation ausgeschöpft werden kann. Wasserstoff kann Sektoren mit Energie versorgen, die nicht für die Elektrifizierung geeignet sind (beispielsweise den Schwerverkehr), und die Energie speichern, um variable Energieflüsse aus erneuerbaren Energieträgern auszugleichen. Vorrangiges Ziel ist die Entwicklung von erneuerbarem Wasserstoff, der hauptsächlich mithilfe von Wind- und Sonnenenergie erzeugt wird. Kurz- und mittelfristig sind jedoch andere Formen CO2-armen Wasserstoffs erforderlich, um die Emissionen rasch zu senken und einen tragfähigen Markt zu entwickeln.

Dazu wurden am EU-Gipfel von 17. bis 21. Juli 2020 von den Staats- und Regierungschefs zwei maßgebliche Beschlüsse gefasst:

1 „Next Generation EU“ 2021–24 (NGEU):

Dieser Aufbauplan für Europa, mit einem Volumen von 750 Milliarden Euro, erfordert massive öffentliche und private Investitionen auf europäischer Ebene, um die Union auf den Weg zu nachhaltiger und robuster Erholung zu bringen, Arbeitsplätze zu schaffen, die durch die Corona-Pandemie verursachten unmittelbaren Schäden zu beheben und gleichzeitig die Prioritäten der Union im Hinblick auf die grüne und digitale Wende voranzubringen. Der durch NGEU verstärkte EU-Haushalt („Mehrjähriger Finanzrahmen“, MFR) wird das wichtigste europäische Instrument hierfür sein. Der Löwenanteil des NGEU entfällt auf die „Aufbau- und Resilienzfazilität“ mit rund 90 Prozent des Gesamtvolumens (davon sind 54 Prozent Darlehen und 46 Prozent Zuschüsse oder „Finanzhilfen“).

Die Mitgliedstaaten erstellen nationale Aufbau- und Resilienzpläne, in denen die Reform- und Investitionsagenda des Mitgliedstaats für die Jahre 2021–2023 formuliert wird. Ein wirksamer Beitrag zur grünen und digitalen Wende ist ebenfalls Voraussetzung für eine positive Bewertung durch die Kommission.

2. Mittelfristiger EU-Haushalt für den Zeitraum 2021–2027 (MFR):

Der Gesamtbetrag an Mitteln für sogenannte Verpflichtungen beträgt 1.074,3 Milliarden Euro. Zusammen mit dem Aufbauplan werden den Mitgliedsstaaten somit in diesem Zeitraum 1.824 Milliarden Euro zur Verfügung stehen.

Klimaschutzmaßnahmen werden in den Strategien und Programmen, die über den MFR und NGEU finanziert werden, durchgängig berücksichtigt. Für den Gesamtbetrag der Ausgaben aus dem MFR und NGEU wird ein Klimaziel von 30 Prozent gelten, das sich in angemessenen Zielen in den sektoralen Rechtsvorschriften niederschlagen wird müssen. Bei beiden muss das Ziel einer klimaneutralen EU bis 2050 eingehalten werden, und beide müssen zur Verwirklichung des neuen Klimaziels der Union für das Jahr 2030 beitragen. Der Vorschlag der Kommission lautet auf 55 Prozent Emissionsreduktion statt der ursprünglich geplanten 40 Prozent. Grundsätzlich sollten alle Ausgaben der EU mit den Zielen des Übereinkommens von Paris vereinbar sein.

WAS BEDEUTET DAS FÜR ÖSTERREICH?

In Übereinstimmung mit seinen – beginnend beim Kyoto-Protokoll – sehr ehrgeizigen Zielfestlegungen strebt Österreich Klimaneutralität bis 2040 an. Zur Realisierung dieses Ziels, eine ganze Dekade früher als von der EU geplant, setzt die Bundesregierung auf ein Bündel umfassender Maßnahmen in Schlüsselbereichen, insbesondere auf das Verdreifachen der Renovierungsrate von Gebäuden, auf Fotovoltaik (PV) auf einer Million Dächer, auf Gemeinschaftsanlagen in der Fotovoltaik, auf die Wasserstoff-Strategie (bis Ende 2020) und vieles mehr.

Entsprechend dem EU-Gipfelbeschluss, wird Österreich einen nationalen Aufbau- und Resilienzplan erarbeiten, um die bereitgestellten Finanzmittel – die, ohne Übertreibung, gigantisch sind – für österreichische Projekte bestmöglich auszuschöpfen. Die Projekt-Pipeline kann auf einer Fülle von erfolgreichen F&E- und Demo-Projekten der AEE, insbesondere der AEE INTEC, in vielen erfolgversprechenden Sektoren (Solar, Nah- und Fernwärme, Gebäude, Speicherung usw.) aufbauen. Die breitgefächerte Erneuerbaren-Community ist aufgerufen, ihre Inputs in diesen Plan einzubringen. Besonderes Augenmerk wird dabei auf Solarwärme zu legen sein, die häufig aus dem Fokus gerät und unter ihrem wahren Wert gehandelt wird.

Bezüglich Wasserstoff im Verkehr wurden Nischenanwendungen im Langstrecken- und Schwerverkehr thematisiert, jedoch die seit Jahren auf EUEbene erfolgreich umgesetzte Markteinführung von Wasserstoffbussen in großen Städten Europas außer Acht gelassen. Gerade diese Anwendung im streckengebundenen städtischen bzw. regionalen öffentlichen Verkehr sollte aber für Österreich die Chance bieten – wie von der Europäischen Kommission erst längerfristig angepeilt – erneuerbare Elektrizität mit dem Vektor Wasserstoff wahrhaft nachhaltig zu koppeln („grüner Wasserstoff“).

Entscheidend bei der Entwicklung der Projekt-Pipeline wird jedoch im Hinblick auf den Wettbewerb mit etablierten Akteuren der konventionellen Energiewirtschaft sein, dass das „Technical Support Instrument“ für die Vorbereitung und Umsetzung des Aufbau- und Resilienzplans sowie „Technical Assistance“ für die Finanzierung der Projekte selbst umfassend genutzt werden. Sollte diese Möglichkeit versäumt beziehungsweise nicht entsprechend genutzt werden, ist davon auszugehen, dass die verfügbaren Mittel in Anwendungen wie den Straßenbau gelenkt werden.

Die auf europäischer Ebene gefassten Beschlüsse bieten für Österreich die Chance, die überaus anspruchsvollen Zielsetzungen im geplanten Zeitrahmen zu erreichen. Analog zum Umgang mit der Corona-Pandemie sollten alle Entscheidungsträger an einem Strang ziehen, um Österreich bestmöglich aus dieser fundamentalen Krise heraus zu investieren, in die richtige, nachhaltige Richtung.

Autor

KARL KELLNER war als Berater bzw. Referatsleiter in der Europäischen Kommission, Generaldirektion für Energie, für den Bereich der erneuerbaren Energie und Energieeffizienz, insbesondere deren Finanzierung, bis 2013 zuständig. Er ist langjähriges förderndes Mitglied der AEE und berichtet für die „erneuerbare energie“ regelmäßig über gesamteuropäische Aspekte in Energiefragen.

Links

Aufbaupaket „Next Generation EU“
https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/de/ip_20_940

EU-Strategie zur Integration des Energiesystems
https://ec.europa.eu/energy/sites/ener/files/energy_system_integration_strategy_.pdf

EU Wasserstoffstrategie
https://ec.europa.eu/energy/sites/ ener/files/hydrogen_strategy.pdf

„Grüner Deal“ der EU-Kommission
https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/de/IP_19_6691

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