Zeitschrift EE

nt 04 | 2020 Digitalisierung im Energiesektor

Digital Energy Twin – Der Schlüssel zur industriellen Dekarbonisierung

Jürgen Fluch, Angela Laverde

Dekarbonisierung, Digitalisierung, Flexibilisierung: Die Energieversorgung in industriellen Betrieben steht vor radikalen Änderungen. Komplexe Systeme brauchen komplexe Lösungen und diese werden durch einen „Digitalen Energie-Zwilling“ in den virtuellen Raum verlegt. Dadurch wird das Risiko in realen Umsetzungen deutlich reduziert und das Beste: NutzerInnen können die Produktion der Zukunft erleben.

Der Digital Energy Twin als der erlebbare Raum zukünftiger Energiesysteme. Foto: AT&S

Ausgangspunkt

Die industrielle Energieversorgung ist derzeit zu einem großen Teil auf den Einsatz einzelner (monovalenter) Versorgungstechnologien ausgelegt. Diese können auf den schwankenden, prozessbedingten Energiebedarf sowie die Volatilität erneuerbarer (thermischer und elektrischer) Energieträger nur bedingt reagieren. Durch Anforderungen an die Industrie im Zuge der Dekarbonisierung des Energiesystems ist es jedoch notwendig, das industrielle Energiesystem als hybride Kombination unterschiedlichster Versorgungstechnologien zu konzipieren, die eng an die Verfügbarkeit erneuerbarer Energien wie Sonne oder Wind in Abstimmung auf den Bedarf gekoppelt sind. Außerdem stellen die steigende Nachfrage nach Produkten aus der Industrie, verbunden mit der Erweiterung der Produktionskapazitäten und damit einhergehendem erhöhten Energiebedarf, sich ständig ändernde Kundenanforderungen und die Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit des Standortes eine große Herausforderung für Betriebe dar. Unter diesen Rahmenbedingungen brauchen Betriebe bestmögliche Unterstützung sowohl in der Optimierung des Betriebs als auch in der Auslegung der Prozess- und Energieversorgungsanlagen.

Am Beispiel des österreichischen Leiterplattenherstellers AT & S Austria Technologie & Systemtechnik AG (AT&S) lässt sich durch die zunehmende Digitalisierung und damit erwarteten Produktivitätssteigerung erkennen, dass Grenzen der bestehenden Energieversorgungsanlagen erreicht werden. Aufgrund der geforderten Flexibilität ist der Um- und Ausbau der Prozess- und Versorgungsanlagen jedoch nur sehr schwer plan- und bewertbar.

Digitaler Zwilling

AEE INTEC arbeitet gemeinsam mit einem multidisziplinären Projektteam aus den Bereichen Prozess- und Versorgungstechnologien, Energietechnik, Datensicherheit sowie Informationstechnologie und Automatisierungstechnik in dem vom Klima- und Energiefonds geförderten Leitprojekt „Digital Energy Twin“ an der Entwicklung einer Methodik und eines Tools (dem digitalen Zwilling) mit deren Hilfe die Optimierung des Betriebs und die Auslegung des industriellen Energiesystems unter den genannten Anforderungen möglich ist.

Dafür wird ein holistischer Optimierungsansatz entwickelt, der sowohl auf realen (live) als auch historischen und zukünftig erwarteten Betriebs- und Prozessdaten basiert. Das Zusammenspiel zwischen fluktuierendem Bedarf, volatiler erneuerbarer Energieversorgung sowie dem Einsatz möglichst effizienter Prozess- und Versorgungstechnologien soll anhand nachvollziehbarer Kriterien optimiert werden. Konkret werden diese Lösungen am Beispiel des Standortes Hinterberg-Leoben von AT&S erarbeitet, validiert und vereinfacht. Dadurch soll die Anwendbarkeit in anderen Industriesektoren ermöglicht werden.

Analysen im virtuellen Raum

Die Methodik des digitalen Zwillings ist aus den Bereichen Produktionssysteme und -logistik bekannt. Er setzt sich aus physischen Objekten sowie ihrer Darstellung in einem virtuellen Raum zusammen. Der physische Betrieb wird in der virtuellen Welt analysiert, bewertet, vorhergesagt und optimiert, und die Simulationsergebnisse werden in die reale Welt zurückgeführt, um diese zu verbessern. In den aktuellen Forschungen wird dieser Ansatz um die Bereiche Energiebedarf und -versorgung sowie Produktqualität erweitert.

Ausgangspunkt ist die Modellierung des Systems sowie einzelner Komponenten, wofür zwei Ansätze gewählt werden: eine physikalische sowie eine datengetriebene Modellierung. Energieversorgungsanlagen werden über eine physikalische Modellierung abgebildet. Mit bekannten physikalischen Zusammenhängen kann man deren Verhalten über Energiebedarf, Wirkungsgrade, Betriebsparameter, etc. in einer Simulation hinreichend genau beschreiben. Dafür gibt es zum Teil umfangreiche Modell-Bibliotheken, die an das bestehende System angepasst, kalibriert und validiert werden. Sind diese physikalischen Zusammenhänge nicht geeignet komplexe Zusammenhänge wie Energiebedarf, Ressourceneinsatz und Produktqualität mit einem vertretbaren Aufwand abzubilden, wählt man die Methode der datengetriebenen Modellierung. Ausgangspunkt dafür sind reale Daten – am besten so viele und so fluktuierend wie möglich. Dadurch stellt man sicher, dass das Modell am Ende alle möglichen Betriebspunkte erfassen und abbilden kann. Geeignete Algorithmen verknüpfen diese Daten und bilden das System in einem Modell ab, je nach Methode als black/grey/white box modeling bezeichnet. Entscheidend ist es, jene Parameter und Zusammenhänge zu identifizieren, mit denen im Fall des Digital Energy Twins Energie- und Ressourcenbedarf sowie Produktqualität in Verbindung gebracht werden. In beiden Ansätzen ist das Ziel, den notwendigen Messaufwand in der realen Welt gering zu halten und in der virtuellen Welt trotzdem eine genaue Abbildung der tatsächlichen Produktion zu erreichen. Parallel dazu werden Themen wie “Data Security“ und „Data Safety“ großgeschrieben und auch am Beispiel der realen Produktion in LeobenHinterberg weiterentwickelt.

Stehen am Ende dieser Entwicklung Modelle für die relevanten Produktionsschritte und deren Energieversorgung zur Verfügung, müssen sie in einem digitalen Zwilling zum System verbunden werden. Das hybride industrielle Energiesystem der Zukunft ist komplex. Um aus der virtuellen Welt konkrete Optimierungsmaßnahmen für dieses System, und das wenn möglich in Echtzeit, zu erhalten, ist es notwendig, die Modelle zu vereinfachen. Sonst wird der digitale Zwilling aufgrund seiner Trägheit nicht in der Lage sein, auf sich ändernde Randbedingungen zu reagieren. Ein weiterer wichtiger Punkt ist es, sich an Standards in der Modellentwicklung und deren Schnittstellendefinition (Kommunikation) zu halten. Die Vereinfachung und Entwicklung technischer Standardlösungen und Modelle für energierelevante Prozess- und Versorgungstechnologien werden, nicht zuletzt aufbauend auf Entwicklungen der Digitalisierung, zu einer kostengünstigen Verbreitung in anderen Industriezweigen führen.

Digital Energy Twin – wofür?

Der digitale Zwilling wird für ausgewählte energierelevante Prozesse wie Badprozesse und Bohren und deren Versorgung durch erneuerbare Energietechnologien entwickelt und validiert. Das Ziel ist klar: im virtuellen Raum kann man Maßnahmen wie die Integration neuer Prozesstechnologien oder einer solarthermischen Anlage testen. Welche Auswirkungen hat das auf die Versorgungssicherheit, die Energiekosten, den ökologischen Fußabdruck und die Produktqualität? Wenn man zeigt, dass es funktioniert und das auch noch sehr gut, dann kann das Risiko radikaler Änderungen im System drastisch reduziert werden. In der Folge werden Betriebe in Umsetzungen investieren und den Digital Energy Twin für eine optimierte Produktion und Wartung der bestehenden Systeme nutzen.

In der weiteren Nutzung der Projektergebnisse sind der Phantasie (fast) keine Grenzen gesetzt, die Visionen sind so vielfältig wie die Herausforderungen in der Entwicklung.

Mit Hilfe von künstlicher Intelligenz und Virtual-Reality-Anwendungen soll der Digital Energy Twin den prozessbedingten Energiebedarf weiter optimieren und erneuerbare Energie bestmöglich in den Produktionsprozess bei AT&S integrieren. Foto: AT&S

Projektpartner

AEE INTEC (Projektkoordination), AT & S Austria Technologie & Systemtechnik Aktiengesellschaft, FH Vorarlberg: Research Center Digital Factory Vorarlberg / Research Center Energy / Research Center User Centered Technologies / VR Lab, FH Salzburg Informationstechnik & System-Management, TU Graz – Institute for Software Technologies, TU Graz – Institute for Interactive Systems and Data Science, Montanuniversität Leoben Lehrstuhl für Energieverbundtechnik, Eberle Automatische Systeme GmbH & Co KG, Enertec Naftz & Partner GmbH & Co KG, Schmoll Maschinen GmbH, ENEXSA GmbH, Bravestone Information-Technology GmbH

Dieses Projekt wird aus Mitteln des Klima- und Energiefonds gefördert und im Rahmen des Programms „Energieforschung 5. Ausschreibung“ durchgeführt.

 

Statement

"Die digitale Transformation bietet uns bei AT&S große Chancen, unsere Prozesse weiter zu optimieren und die Leiterplattenproduktion noch nachhaltiger zu gestalten. Ein Schwerpunkt des AT&S Digital Transformation Programms liegt auf dem Digital Energy Twin Projekt, bei dem ein digitales Modell der Fertigung bei AT&S entwickelt wird, das uns erlaubt, den Energieverbrauch und die Energieversorgung in der Produktion kontinuierlich zu überwachen, zu analysieren und Änderungen zu simulieren. Damit wird das Ziel einer effizienten Energieversorgung auf Basis erneuerbarer Energiequellen und ein Beitrag zur Dekarbonisierung bei AT&S verfolgt."

Heinz Moitzi, Chief Technology Officer, AT & S Austria Technologie & Systemtechnik Aktiengesellschaft

Autoren

Dipl.-Ing. Jürgen Fluch ist Leiter des Bereichs „Industrielle Systeme“ bei AEE INTEC. Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!, Twitter: Juergen_Fluch

Dipl.-Ing. Angela Laverde, Projektleiterin Energie, Abteilung Manufacturing Process Excellence, AT & S

Weiterführende Informationen

https://www.energieforschung.at/projekte/1035/optimised-operation-and-design-of-industrial-energy-systems

 

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