Zeitschrift EE

 nt 01 | 2022 Flexibilisierung industrieller Energiesysteme

Vom gemeinschaftlichen Wohnen hin zum zukunftsfähigen Quartier

Gesamtheitliche Quartiersplanung als Wegweiser

Attraktiven und modernen Wohn- und Lebensraum gestalten, soziales Miteinander stärken, integrative Betreuung, Nachhaltigkeit leben, ein senioren- und kindergerechtes Umfeld schaffen, und das alles zu leistbaren Mietpreisen? Was für viele wie eine schöne Utopie klingt, ist in Herzogenburg (NÖ) im Begriff Realität zu werden. Ein durch den „Garten der Generationen e.V.“ (GdG) initiiertes Wohnbauvorhaben hat sich nämlich die Erfüllung eben genau dieser Wünsche und Vorstellungen zur Aufgabe gemacht.

Spatenstich für ein gemeinschaftliches Wohnprojekt in Herzogenburg. Hier entsteht ein Quartier mit 10 000 m² Bruttogeschoßfläche und einem Anergienetz zur Energieversorgung. Quelle: Garten der Generationen e. V.

Ziel des Vorhabens ist es, über mehrere Bauphasen hinweg ein nachhaltiges Wohn- und Lebensquartier zu entwickeln. Und Nachhaltigkeit ist bei der Planung und Gestaltung des Quartiers auch das wesentliche Stichwort. Es ist eines der Grundanliegen des Vereins GdG, ökologische Kreislaufprinzipien in diesem Projekt zu verwirklichen. Dies betrifft sowohl biologische, soziale, physikalische und auch wirtschaftliche Kreisläufe.

Geplante Ausbaustufen zur Erreichung eines integrierten Energiesystems zur autarken Energieversorgung im Bereich Wärme- und Stromversorgung sowie Mobilität. Quelle: AEE INTEC

Biologische Kreisläufe

Als Beispiel sei die Verwendung von Wasser und Abwasser genannt. Der Grundsatz lautet: Wasser und Nährstoffe sollen soweit und solange wie möglich am Grundstück bleiben. Mithilfe einer aeroben Rotte-Pflanzenfilteranlage wird Abwasser so aufbereitet, dass es wiederverwendbar ist. Das gereinigte nährstoffreiche Wasser wird zusammen mit gesammeltem Regenwasser gespeichert und versorgt die Bewässerung der Gärten sowie alle WC-Spülungen der Siedlung. Auch das verdunstende Wasser einer geplanten Teichanlage kann durch das gesammelte Wasser ersetzt werden. Selbst wenn es nie regnet, werden hier täglich etwa 5 m³ nährstoffhaltiges Brauchwasser erzeugt. Die verrotteten und kompostierten Feststoffe des Abwassers werden als Dünger weiterverwendet.

Vermögenspool

Die Finanzierung der Siedlungsanlage erfolgt neben Bankkrediten zu einem wesentlichen Teil durch ein Bürgerbeteiligungsmodell in der Form des sogenannten Vermögenspools. Dabei wird ein Kapitalkreislauf geschaffen, der in Form einer privat genutzten Immobilie ein sicheres Anlageobjekt schafft und gleichzeitig hohe Flexibilität bei der Wiederentnahme für die Anleger bringt.

Soziale Kreisläufe

Im Garten der Generationen werden unterschiedliche Generationen zusammenleben. Ziel ist, dass es zu einem wechselseitigen Austausch von neuem Wissen und bestehender Erfahrung kommt und somit ein angenehmes Miteinander entsteht. Auf die unterschiedlichen Bedürfnisse der verschiedenen Generationen wird räumlich und inhaltlich speziell eingegangen. So werden beispielsweise für die ältere Generation Alten-WGs, ein Salettl zum Kartenspielen und ein Pflegebad eingerichtet. Für die junge Generation werden ein großer Spielplatz mit großer Sandfläche und viel Raum zum Gestalten eigener Vorstellungen geschaffen.

Physikalische Kreisläufe

Die Erzeugung, der Verbrauch und die Speicherung von Energie ist ein weiteres zentrales Thema. Eines der innovativen technologischen Konzepte ist es, die Wärme- und Kälteverteilung im Quartier über ein Niedertemperatur-Mikronetz, ein sogenanntes Anergienetz, zu realisieren. Das Anergienetz verbindet die Gebäude und primärseitigen Langzeitspeicher miteinander und ermöglicht es ihnen, Wärme auf niedrigem Temperaturniveau untereinander auszutauschen und mittels dezentraler Wärmepumpen in den Gebäuden die Nutzwärme bereit zu stellen. Versorgt wird das gesamte System hauptsächlich durch solarthermische Kollektoren in Kombination mit saisonalen Langzeitspeichern, Wärmepumpen und entsprechenden gebäudeseitigen Speichern. Neben der kalten Fernwärmeleitung werden außerdem kurze, heiße Stichleitungen zwischen den Gebäuden verlegt, über welche Wärme aus den Solarkollektoren speziell im Sommer direkt in die sekundärseitigen Speicher geladen werden kann. Zentrales Element der thermischen Gebäudekopplung soll jedoch das Anergienetz werden, welches mit den Bauphasen wächst und über die Zeit mehr und mehr lokale Ressourcen einbindet. Zu diesen lokalen Ressourcen soll in Zukunft auch ein Biomeiler zählen. In einem solchen Meiler können Bioabfälle und Grünschnitte durch einen aeroben Verwesungsprozess energetisch verwertet und die dabei freigesetzte Wärme über Rohrschlagen aufgefangen und zur Deckung der Bedarfe in den Gebäuden genutzt werden. Der nach der Verwesung übriggebliebene nährstoffreiche Kompost kann weiterverwendet werden und den biologischen Kreislauf schließen.

Umsetzung bis jetzt

Zeitstrahl

In einer ersten Bauphase mit Baubeginn Q4/2020 wurden drei Mehrfamilienhäuser mit einer jeweiligen Teilnutzung von 15 Prozent für e.g. Büroräume oder Pflegepraxen errichtet. Parallel dazu wurde die Infrastruktur für die nachhaltige Energieversorgung durch das Anergienetz errichtet, inklusive der notwendigen thermischen Speicher (Erdspeicher und Fundamentspeicher), Wärmepumpen sowie der Wärmeerzeugung durch Solarkollektoren. Darüber hinaus wurde das Monitoringequipment für die Auswertung und die Optimierung des Betriebs installiert.

Vogelperspektive des Quartiers. Dargestellt sind vollflächig und rot die in Bauphase 1 errichteten Gebäude. Transparente Gebäude sind den folgenden Bauphasen 2, 3 und 4 (blau, grün, orange) zuzuordnen

Errichtet wurden im ersten Bauabschnitt die Objekte 1, 3 und 4, zwei solarthermische Kollektorfelder zu insgesamt 100 m², ein Erdsondenfeld (ESF 1 - gelb) zur saisonalen Speicherung von Wärme, Fundamentspeicher unter den Gebäuden (grau), Teile des Anergienetzes (rote und blaue Linien), sowie gebäudeseitige Wärmepumpen (schwarz) und Speichertanks (weiß)

Forschungsprojekt Anergy2Plus – Ausblick auf weitere Bauphasen

Das Ziel des durch die FFG abgewickelten Forschungsprojektes „Anergy2Plus“ ist es, einen gesamtheitlichen Ansatz bei der Auslegung, dem Bau und letztendlich der Nutzung der Energieversorgung im Quartier zu verfolgen sowie Aussagen über mögliche zukünftige Entwicklungen bzw. Erweiterungen des Systems zu treffen.

Aufbauend auf der bestehenden Umsetzung werden in drei anschließenden Bauphasen weitere Gebäude mit ähnlichen Nutzungsprofilen errichtet, welche wiederum über Produktions- und Speichereinheiten verfügen. Außerdem soll das gesamte Energiesystem über externe Langzeitspeicher erweitert werden. Neben der thermischen Domäne ist durch die Integration von PV-Modulen die Erweiterung auf die elektrische Ebene geplant. Ziel ist es, durch die intelligente Vernetzung von Angebot, Nachfrage, Speicherkapazitäten im System sowie Nutzer*innenverhalten eine möglichst autarke Energieversorgung im Bereich der Wärme- und Stromversorgung sowie der Mobilität zu erreichen.

Die Erkenntnisse und Ergebnisse dieses Projekts können als Wegweiser für andere Vorhaben dienen. Eine gemeinschaftliche und kreislauforientierte Planung und Nutzer*innenintegration können dabei helfen, nicht nur Bedürfnisse, Vorstellungen und Wünsche für zukünftiges Wohnen und Leben zu realisieren, sondern auch Identifikation und Zugehörigkeit zu schaffen. Aspekte, die in vielen Lebensentwürfen eine immer zentralere Rolle einnehmen und auch in Zukunft stärkere Beachtung finden werden.

Autor*innen

Lorenz Leppin, MSc ist wissenschaftlicher Mitarbeiter des Bereichs „Städte und Netze“ bei AEE INTEC. Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!

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