Zeitschrift EE

nt 01 | 2023 Datengesteuerte Intelligente Gebäude

Beschleunigte Umsetzung multifunktionaler Gebäudehüllen

Ausgehend von Bestrebungen zur Steigerung der Energieeffizienz sowie des Anteils erneuerbarer Energieträger im Gebäudebereich ist in den letzten Jahren eine Zunahme an neuen und komplexeren Gebäudehüllsystemen festzustellen. Sowohl der Aufbau der Gebäudehülle als auch deren Funktionalität werden immer vielschichtiger. Neben der angestammten Schutzfunktionen der Hülle, werden vermehrt gebäudetechnische Komponenten zur Energiekonversion und -speicherung sowie zur Raumkonditionierung integriert. Im Projekt SCIN wurde ein maßgeschneidertes Dienstleistungsportfolio zur Entwicklung und Optimierung multifunktionaler Gebäudehüllen entwickelt.

Abbildung 1: Das Projekt „Sophisticated Comfort Oriented Intelligent Building Envelopes“ stellte fünf Schlüsseltechnologien in den Fokus. Quelle: AEE INTEC

Ausgangssituation und Herausforderungen

Die verfügbaren Prüf- und Berechnungsmöglichkeiten für Gebäudehüllen sind in den letzten Jahrzehnten verfeinert worden, da sich die Untersuchungsmöglichkeiten stärker auf die Analyse einzelner spezifischer Eigenschaften des Bauteils konzentrieren. Bei multifunktionalen Hüllsystemen mit gebäudetechnischen Komponenten stehen jedoch alle Komponenten in Wechselwirkung zueinander. Dadurch werden die Eigenschaften von Bauteilen, Komponenten und Systemen von mehreren Parametern systemisch beeinflusst, etwa vom Mikroklima, von aktiven Elementen in der Hülle wie z. B. solaren Umwandlungstechnologien oder Lüftungssystemen, dem Nutzer*innenverhalten oder Behaglichkeitskriterien im Innenraum.

Diese Abhängigkeiten und Wechselwirkungen der Komponenten untereinander und mit dem Raum werden bei der konventionellen Entwicklung der einzelnen Komponenten oft außer Acht gelassen und können mit üblichen Simulations- und Prüfmethoden auch nicht untersucht werden. Ganzheitliche Methoden, die sowohl eine entsprechende Modellbildung sowie spezielle Test- und Prüfabläufe bzw. auch die Koppelung von Modellen und Messung ermöglichen, fehlten bis dato gänzlich.

Insbesondere für kleine und mittlere Unternehmen (KMU), welche die Bau- und Gebäudetechnikbranche dominieren, stellt die fehlende Kompetenz für die erforderlichen komplexen Simulations- und Testmethoden eine maßgebliche Hürde dar, um die Leistungsfähigkeit und die Interaktionen von Mikroklima, Bauteil, gebäudetechnischer Ausstattung in Verbindung mit dem dahinterliegenden Raum unter praxisnahen Rahmenbedingungen zu evaluieren.

Stärkung der Forschungs- und Entwicklungskompetenzen

Um die Entwicklungszeit für KMU zu verkürzen und eine zielsichere Entwicklung mit geringer Fehlerrate zu schaffen, ist es notwendig, das Verhalten der Komponenten und Technologien der KMU im Gesamtkontext der Hüllenintegration mittels physikalischer Simulationsmodelle abzubilden, unter möglichst realen Testbedingungen zu untersuchen, oder eine Kombination aus numerischer und messtechnischer Analyse durchzuführen. Dafür notwendige integrale Simulations- sowie Prüfmethoden wurden innerhalb des kürzlich abgeschlossenen Forschungsprojekts SCIN - Sophisticated Comfort Oriented Intelligent Building Envelopes, in Zusammenarbeit von AEE INTEC und Fachhochschule Salzburg entwickelt. Der Schwerpunkt lag auf fünf wesentlichen Schlüsseltechnologien, die in diesem Zusammenhang als zukünftig relevant identifiziert wurden. Diese sind Tageslicht- und Kunstlicht-Managementsysteme, Lüftungssysteme mit Wärme- und Feuchterückgewinnung, passive und aktive Solarenergiesysteme, Energiesysteme für Heiz- und Kühlzwecke sowie als fünfte Kategorie thermische Energiespeicher- und Wärmeabgabesysteme.

PyroScanner für PyroTracking-Verfahren und Pyranometer-Kalibrierung. Quelle: AEE INTEC

Breites Spektrum an innovativen Methoden

Bereits zu Beginn des Projektes wurde zentralen Fragestellungen, die sich unter anderem auch durch die intensiven Gespräche mit Experten aus der Bauund Gebäudetechnikbranche im Kontext multifunktionaler Hüllensysteme ergaben, identifiziert und spezifische innovative Methoden entwickelt, in der Fassadenprüfbox von AEE INTEC in Gleisdorf getestet und die Verfahren verfeinert.

Darunter fallen Verfahren und Methoden wie beispielsweise:

  • Berechnungsmodelle zur Bestimmung des Gesamtenergiedurchlassgrads von beschatteten und nicht beschatteten transparenten Flächen. Ein speziell entwickeltes Normierungsverfahren bildet die Basis für die Ermittlung der Zeitmittelwerte eines zweidimensional gescannten Bereiches (PyroTracking-Verfahren).
  • Bestimmung von Leuchtdichteverteilung, Tageslichtquotient und spektraler Verteilung aller (teil-) transparenten Flächen in der Gebäudehülle unter Berücksichtigung von spezifischen Geometrien und Oberflächeneigenschaften (z. B. Sonnenschutzlamellen).
  • CFD-Strömungsmodelle zur Darstellung natürlicher Konvektion sowie Beurteilung der Umgebungsströ- mung (Windlasten) als Einflussgröße auf hüllenintegrierter Lüftungssysteme.
  • Entwicklung breitentauglicher Gebäudehüllenmodelle für stationäre und instationäre Detailbetrachtungen (Wärmebrücken, hygrothermische Effekte) zur Abbildung aktiver Heiz- und Kühlebenen in Gebäudehüllen.
  • Methode zur physikalischen Implementierung von Hardware-in-the-Loop-Konzepten bzw. Dummies. Mit dem Hardware-in-the-Loop-Dummy kann in der Fassadenprüfbox reproduzierbar die Interaktion von Mensch und Gebäude getestet werden.

Human in the Loop zur Raumluftkonditionierung (Feuchtegehalt (Be- und Entfeuchtung), CO2-Konzentration und Raumlufttemperatur, VOC´s, etc.). Quelle: AEE INTEC

Diese und viele weitere Methoden und Services wurden bereits während der Projektlaufzeit für ergänzende Direktaufträge aus der Industrie bzw. als Basis für Folgeprojekte herangezogen und so nicht nur unmittelbar verwertet, sondern auch auf ihre Praxistauglichkeit überprüft und optimiert. Das Projektkonsortium plant, die entwickelten Services auch nach Projektende aktiv im Markt anzubieten, um die breite Umsetzung multifunktionaler Gebäudehüllen mit den im Projekt SCIN gewonnenen Erkenntnissen gezielt zu beschleunigen.

Autor

Dipl.-Ing. Thomas Ramschak ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Forschungsgruppe „Erneuerbare Energien“ bei AEE INTEC. Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!

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