Wie ein alter Handelsvertrag das Klima gefährdet
Text: Diethold Schaar
Der rund 30 Jahre alte Energiecharta-Vertrag kann zum Bumerang für die aktuellen Klimaziele werden. Denn er ermöglicht es, dass Unternehmen Staaten verklagen, wenn sie aus den fossilen Energieträgern aussteigen.
Die Energiecharta (Energy Charta Treaty – ECT) gehört zu jenen un zähligen weltweiten Handelsver-- trägen, die abseits der geltenden Gesetze immer wieder für Kritik sorgen. Die Vereinbarung wurde Anfang der 90er-Jahre von 51 europäischen und asiatischen Ländern unterzeichnet und kann nur noch mit Zustimmung aller Vertragspartner verändert werden. Die ursprüngliche Idee war, privatwirtschaftliche Investitionen im Energiesektor zu schützen, insbesondere in den Ländern, die damals aus der zerbröckelnden Sowjetunion hervorgingen. Unternehmen sollten vor allem in diesen politisch instabilen Ländern vor Enteignung und unfairen Wettbewerbsbedingungen geschützt werden. Fühlen sie sich benachteiligt, können sie vor einem internationalen Schiedsgericht auf Schadenersatz klagen – nicht nur für die Kosten, die bereits entstanden sind, sondern auch für potenziell entgangene Gewinne in der Zukunft.
Der spektakulärste Fall bisher war die Klage der ehemaligen Yukos-Aktionäre gegen Russland vor einem Schiedsgericht in Den Haag. Der Energiekonzern Yukos war Anfang der 2000er-Jahre zerschlagen worden, mutmaßlich weil der Vorstandsvorsitzende und damals wohl einer der reichsten Oligarchen Russlands, Michail Chodorkowski, als Förderer der Opposition und Gegenspieler Wladimir Putins auftrat. Nach zehn Jahren Prozessverlauf sprach das Schiedsgericht den Aktionären mehr als 37 Milliarden Euro Schadenersatz zu. Das Urteil konnte allerdings bisher noch nicht vollstreckt werden, weil sich Russland mit allen Mitteln dagegen wehrt.
Heute sind aber immer mehr auch westliche Staaten von Klagen bedroht, vor allem wenn sie Maßnahmen gegen die Klimakrise oder für die Energiewende ergreifen. Wegen des beschlossenen Atomausstiegs verklagte etwa der schwedische Energiekonzern Vattenfall Deutschland auf Schadenersatz von 4,7 Milliarden Euro. Inzwischen ist dieser Fall zu den Akten gelegt, da Deutschland sich mit Vattenfall und anderen Energiekonzernen im Rahmen des Atomausstiegs auf eine Entschädigung von 2,4 Milliarden Euro einigte. Ohne die Klage vor dem Schiedsgericht wäre dieser Vergleichsbetrag vermutlich niedriger ausgefallen.
Die hohen Entschädigungssummen für den Kohleausstieg in Deutschland könnten ebenfalls auf den ECT und die Angst vor möglichen Regressansprü- chen zurückzuführen sein. Deshalb enthält der Kohleausstiegsvertrag zwischen der deutschen Regierung und den Energiekonzernen auch die Formulierung: „Die Vertragsparteien sind sich einig, dass die Gesellschaften auf Forderungen und Ansprüche aus dem EnergiechartaVertrag verzichten.“
Im November 2021 berichtete die Tageszeitung Kurier, dass es Klagen nach dem Energiecharta-Vertrag längst auch mit österreichischer Beteiligung gibt. Die Kärntner Landeselektrizitätsgesellschaft Kelag hatte in Rumänien in den Bau und den Betrieb von drei Windparks investiert, angelockt vom äußerst großzügigen rumänischen Förderungssystem. Der internationale Ansturm auf Projekte mit erneuerbarer Energie in Rumänien war aber so groß, dass die rumänische Regierung bald die Reißleine zog und die Businesspläne der Kelag nicht mehr aufgingen. Ähnlich ging es auch mehreren kleineren heimischen Unternehmen, die in erneuerbare Energie-Projekte in Rumänien investiert hatten. Sie alle zogen vor das bei der Weltbank angesiedelte Schiedsgericht und verklagten Rumänien.
In gänzlich anderen Dimensionen bewegen sich die Klagen der Energiekonzerne RWE und Uniper gegen die Niederlande wegen des dort beschlossenen Kohleausstiegs bis 2030. Dabei geht es um Schadenersatz von bis zu zwei Milliarden Euro. RWE hatte 2015 ein Kohlekraftwerk in Eemshaven in Betrieb genommen. Uniper folgte 2016 mit einem Kraftwerk in Maasvlakte. Nach Ansicht der Energiekonzerne würde der Kohleausstieg hohe Verluste bedeuten, da sie die Kohlekraftwerke in den Niederlanden früher als geplant abschalten müssten.
Anfang März dieses Jahres fanden jetzt erstmals Verhandlungen für eine Reform des Energiecharta-Vertrages statt. Der luxemburgische Energieminister Claude Turmes äußerte nach der Verhandlungsrunde am sechsten März via Twitter jedoch sein großes Bedauern, dass bislang keine Fortschritte für eine Reform des Vertrages erzielt wurden. Neben Luxemburg setzen sich auch weitere europäische Staaten wie Frankreich, Spanien, Österreich, die Niederlande und Belgien für eine Reform ein. In einem gemeinsamen Beschluss spricht sich auch das EU-Parlament dafür aus, dass der Schutz von Investitionen in fossile Brennstoffe im Rahmen der Modernisierung des Vertrags über die Energiecharta beendet werden sollte.
Druck auf die Verhandlungen übt auch ein breites zivilgesellschaftlichen Bündnis in Europa aus. Ende Februar setzten sie eine Petition auf, mit dem Aufruf an die EU-Kommission und die Mitgliedsstaaten, den Energiecharta-Vertrag zu stoppen. Die Resonanz ist riesig: Innerhalb von zwei Wochen haben mehr als eine Million Europäer die Petition unterzeichnet.
Doch aus der nächsten Verhandlungsrunde der 51 Staaten, die Teil des ECT sind, ging nur ein kurzes Kommuniqué hervor, in dem dringend nötige Reformen nicht aufgeführt wurden. „Die Verhandlungen konzentrierten sich auf kleine Detailpunkte und ignorierten den Elefanten im Raum völlig: den anhaltenden Schutz von Investitionen in fossile Brennstoffe und schmutzige Energie“, berichtete Anna Cavazzini, Abgeordnete der deutschen Grünen/EFA in der EU, die eine Beobachtergruppe zu den ECT-Verhandlungen im Handelsausschuss des Europaparlaments leitet.
Diese Einschätzung teilt auch Pia Eberhardt von der Organisation Corporate Europe Observatory (CEO), die die Verhandlungen zum ECT seit langem intensiv begleitet. Es gäbe Länder wie Japan, Kasachstan und einige osteuropäische Länder, die überhaupt keinen Veränderungsbedarf sehen. „Und wirklich jedes Komma im Vertrag kann nur im Konsens verändert werden“. Signifikante Änderungen, die Klagen gegen Klimaschutz verhindern, seien daher unwahrscheinlich.
Ein Austritt von Staaten scheint daher die logische Konsequenz. Italien vollzog diesen Schritt bereits 2016. Das habe das System damals erschüttert, so Eberhardt. Die Abkehr einzelner Staaten sei gut, um Denkprozesse anzustoßen. Inzwischen gebe es Bestrebungen, den ECT auf noch mehr Staaten auszuweiten. Diese könnten durch den Austritt einzelner Länder abgeschreckt werden, hofft Eberhardt.
Doch trotz Ausstiegs wird Italien aktuell vor einem internationalen Schiedsgericht verklagt. Die britische Öl- und Gasfirma Rockhopper verklagte das Land, nachdem das italienische Parlament 2016 alle neuen Öl- und Gasaktivitäten vor der Küste des Landes verbot. Da war Italien bereits aus dem ECT ausgestiegen, doch eine der Klauseln im Energiecharta-Vertrag besagt, dass Länder noch 20 Jahre nach ihrem Ausstieg verklagt werden können, wenn die Investitionen der Firmen vor Austritt aus dem Vertrag getätigt wurden.
Wirklich zielführend sei daher nur ein gemeinsamer Ausstieg mehrerer Länder, meint Eberhardt. So könnten auch die Staaten untereinander erklären, dass Klagen gegen vergangene Investitionen nicht mehr rechtmäßig seien. „Wir hoffen natürlich auf einen gemeinsamen Austritt der EU mit weiteren europäischen Ländern“, sagte Eberhardt. Davon sei man zwar noch weit entfernt, doch vor einem Jahr hätte die Option eines Austritts noch nicht einmal zur Debatte gestanden, so die Beobachterin weiter. Inzwischen kokettieren vor allem Spanien und Frankreich öffentlich damit, sollte es nicht entscheidende Reformen geben.
Für eine neue Wendung sorge vor Kurzem der Europäische Gerichtshof mit einem Urteil Anfang September des heurigen Jahres. Darin wurde festgehalten, dass Schiedsverfahren auf Grundlage des Energiecharta-Vertrags nicht mit EU-Recht vereinbar sind. Ein ähnliches Urteil hatte es schon im März 2018 mit dem sogenannten „Achmea-Urteil“ des EuGH gegeben.
Das niederländische Finanzunternehmen Achmea hatte ab 2004 in der Slowakei investiert, um dort private Krankenversicherungen zu verkaufen – die Slowakei hatte zuvor den Krankenversicherungsmarkt liberalisiert. Doch in der Folge schloss die Slowakei den Markt wieder und Achmea erstritt auf Grundlage des Energiecharta-Vertrags in einem privaten Schiedsverfahren 22 Millionen Euro Schadenersatz von der Slowakei.
Der EuGH urteilte jedoch, dass dieses Urteil im Widerspruch zur „Autonomie des Unionsrechts“ stehe. Es sei demnach allein Sache nationaler Gerichte und des EuGH, über Streitigkeiten zwischen Mitgliedsstaaten und deren Bewohnern – und damit auch von Unternehmen – zu entscheiden. Die privaten Schiedsgerichte, die sich öffentlichen Institutionen entziehen und oft im Geheimen tagen, seien nicht Teil dieses Systems, so der EuGH in seiner Urteilsbegründung. Konzerne aus EU-Mitgliedsstaaten dürften demnach keine Mitgliedsländer vor einem privaten Schiedsgericht auf Schadenersatz verklagen.
Es stehe jedoch zu befürchten, dass die Schiedsgerichte die Urteile des EuGH ignorieren, zeigt sich die Sprecherin der Grünen im EU-Parlament, Anna Cavazzini, besorgt. „Daher brauchen wir eine grundsolide Entscheidung des Europäischen Rates, dieses Urteil auch umzusetzen und so weitere Fälle zwischen den Mitgliedstaaten zu vermeiden“, so Cavazzini.
Als Plan B wird der Austritt aller EU-Länder überlegt, mit einer Zusatzvereinbarung, Klagen innerhalb des Staatenbundes aufgrund des ECT zu verbieten. Das könnte zumindest die Zahl kostspieliger Klagen reduzieren, betreffen doch derzeit 60 Prozent aller Verfahren ausschließlich EU-Länder. Luxemburg, Österreich, Frankreich und Spanien tendieren in diese Richtung. Allerdings sollte dann zumindest noch die Schweiz zum Austritt überredet werden, weil dort einige Konzerne ihren Sitz haben.
Quelle: www.energiezukunft.eu (Print- und Onlinemagazin der deutschen Naturstrom AG)
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